Jedes Legal-Tech-Projekt sollte selbstverständlich einen konkreten Nutzen mit sich bringen: beispielsweise eine Reduzierung der Arbeitsbelastung durch Automatisierung von wiederkehrenden Tätigkeiten; oder eine schnellere und einfachere Bereitstellung von Leistungen in internen Portalen
Darüber hinaus kann und sollte ein solches Projekt aber noch auf anderen Ebenen nützlich sein. Dies gilt insbesondere für die ersten „Gehversuche“, die eine Rechtsabteilung oder eine Anwaltskanzlei mit Legal Tech macht.
Prozessorientierung etablieren
Es ist nur sehr selten sinnvoll, vorhandene, papierbasierte Prozesse 1:1 digital umzusetzen. Fast immer geht dem eigentlichen technischen Projekt daher eine Prozessanalyse voraus. Dabei wird oft zum ersten Mal systematisch darüber nachgedacht, aus welchen Einzelprozessen die Arbeit der Juristen eigentlich besteht, welche davon strategisch wichtig sind, in welchen Mengen sie auftreten, usw. Dieser prozessorientierte Blick fällt Juristen oft nicht leicht und ein kleines, abgegrenztes Projekt kann hier gut zum Üben dienen.
Agilität lernen
Moderne Softwareentwicklung findet heute meist nach „agilen Methoden“ wie SCRUM statt. Durch höhere Transparenz und Flexibilität und einer schnelleren Rückkopplung zwischen den Anwendern und den Entwicklern wird dabei die Entwicklungsgeschwindigkeit erhöht und das Risiko verringert, dass die fertige Software nicht das leistet, was sich die Anwender eigentlich vorgestellt haben.
Allerdings erfordert agile Entwicklung auch eine neue Art der Zusammenarbeit, die auf Interaktion und Vertrauen beruht. Die vier Leitsätze des Agilen Manifestes[1] formulieren dazu:
- Individuen und Interaktionen stehen über Prozessen und Werkzeugen
- Funktionierende Software steht über einer umfassenden Dokumentation
- Zusammenarbeit mit dem Kunden steht über der Vertragsverhandlung
- Reagieren auf Veränderung steht über dem Befolgen eines Plans
Gerade für größere, eher hierarchisch organisierte Unternehmen stellt das zunächst oft eine Herausforderung dar. Ein Legal-Tech-Projekt bietet hier die Chance, Erfahrung mit agilen Prinzipien zu sammeln. Dazu gehören:
- Frühe und kontinuierliche Auslieferung von funktionierenden Softwareständen, in die erst nach und nach erweiterte Funktionen eingebaut werden
- Ständiger Abgleich zwischen den Nutzererwartungen und den ausgelieferten Softwareständen
- Akzeptieren, dass nicht alles vorab planbar ist; sich verändernde Anforderungen im Laufe des Projektes werden als Chance begriffen, nicht als Bedrohung
- Einfachheit als Grundprinzip, in Oberflächen wie auch im technischen Hintergrund
Zusammenarbeits-Erfahrung sammeln
Bei einem Legal-Tech-Projekt müssen Personen ungewohnt zusammenarbeiten: Die Rechtsabteilung mit der internen IT, die Justiziarin mit dem externen Softwareentwickler, der Prozessspezialist mit dem Experten aus der Business Unit. Dabei muss man sich nicht nur an unterschiedliche Denkweisen und Vokabulare gewöhnen, sondern eventuell auch an neue, bislang ungewohnte Vorgehensweisen. Durch konkrete Projekte gewinnt man aber auch Erfahrung mit den handelnden Personen. Kennen ist die Basis für Vertrauen und erleichtert bei nachfolgenden Projekten erheblich die gemeinsame Arbeit. Nicht zuletzt sind externe Ressourcen für Legal-Tech-Projekte (wie Software-Entwickler) oft rar und ein erfolgreiches gemeinsames Projekt erleichtert den zukünftigen Zugriff.
Auch die formale Gestaltung der Zusammenarbeit ist bei agilen Projekten anders und neu. Ein entsprechender Vertrag beschreibt nicht primär ein zu erstellendes Werk, sondern muss vor allem die Rollen der Beteiligten und den anzuwendenden Prozess festlegen.[2] Klassische Standard-Einkaufsverträge, wie sie manchmal von einer Einkaufsabteilung vorgeschlagen werden, sind dafür denkbar schlecht geeignet. Das liegt nicht zuletzt daran, dass solche Verträge oft aus dem Blickwinkel der gegensätzlichen Interessen von Ein- und Verkäufern geschrieben wurden. Ein agiles Projekt beruht jedoch auf Zusammenarbeit, die ohne ein grundsätzliches gegenseitiges Vertrauen nicht denkbar ist.
Natürlich darf Vertrauen nicht in Naivität umschlagen und beinhaltet (wie alle Verträge und Projekte) immer auch ein Risiko. Auch deswegen ist es sinnvoll, erste Erfahrungen mit dieser Form der Zusammenarbeit und Vertragsgestaltung in kleineren Projekten zu sammeln, bevor man wichtige, große Projekte angeht.
Anfassbare Erfolge schaffen
Hat man erst ein kleines erfolgreiches Legal-Tech-Projekt vorzuweisen, fällt es erheblich einfacher, größere, wichtigere oder komplexere Projekte intern zu „verkaufen“. Mit den gemachten Erfahrungen können Aufwände und Stolpersteine besser abgeschätzt werden, das Prognoserisiko bei der Aufwandsschätzung sinkt. Auch gegenüber den Entscheidungsträgern hilft ein konkret vorzeigbares, erfolgreiches Projekt meist mehr als die besten Präsentationsfolien.
Attraktivität der eigenen Organisation erhöhen
Legal-Tech-Projekte werden zunehmend auch als Recruiting-Instrumente gesehen. Um die Attraktivität für junge Juristen zu erhöhen, führen mittlerweile viele große Anwaltskanzleien „Hackathons“ durch oder laden zu gemeinsamen Veranstaltungen mit Lösungsanbietern ein. Eine Rechtsabteilung, die aktiv solche Projekte durchführt und zeigt, dass sie auf neue Technologien setzt, erhöht damit die eigene Attraktivität für Bewerber, weil damit signalisiert wird, dass hochwertige juristische Arbeit im Vordergrund steht, nicht repetitive Standardarbeit.
Fazit
Bei der Entscheidung über die Durchführung eines Legal-Tech-Projektes sollte nicht nur der geplante inhaltliche Nutzen berücksichtigt werden. Insbesondere wenn noch nicht viel Erfahrung in diesem Bereich vorliegt, sind die Lerneffekte und die Bedeutung für das interne und externe „Marketing“ oft noch wichtiger.
Fangen Sie an![3]
[1] Siehe http://agilemanifesto.org/
[2] Vgl. Kühn, Agile Verträge - Abnahme und Vergütung effektiv gestalten, Rethinking Law 5.2019, S.67
[3] Für Erfolgsfaktoren bei der Durchführung siehe Halbleib, Legal Tech in Rechtsabteilungen, LR 2019, S. 176, abrufbar unter: https://www.legal-revolution.com/de/the-legal-revolutionary/wirtschaft-und-management/legal-tech-in-rechtsabteilungen